Anmerkung zu OLG Celle, Urteil vom 20.11.2019, 14 U 191/13
Sachverhalt
Die Klägerin bewarb sich um den Zuschlag für Straßenbauarbeiten. Dabei war Boden bzw. Fels aus dem Abtragbereich zu lösen und zu entsorgen. Die Klägerin macht nun Mehrkosten aus einem Nachtrag geltend, weil bei der Ausführung der Arbeiten eine andere Bodenqualität vorgefunden worden sei als in den Vergabeunterlagen angegeben.
Der Ausgangspunkt war wie so oft eine widersprüchliche Leistungsbeschreibung. In der Baubeschreibung hieß es zur Bodenbeschaffenheit und zu den geologischen Verhältnissen, die vorhandenen Böden könnten keiner bestimmten Einbauklasse gemäß LAGA M 20 (Merkblatt 20 der Länderarbeitsgemeinschaft Abfall) zugeordnet werden. Der beklagte öffentliche Auftraggeber nahm dementsprechend im regelnden Teil des Leistungsverzeichnisses keine Einordnung vor. Auch hielt er fest: „nicht überwachungsbedürftiger Boden“. Das ebenfalls beigefügte Gutachten schlug demgegenüber vor, „den Boden analog der Einbauklasse Z 1.1 der Empfehlungen der LAGA“ zu behandeln. Es gebe zudem auffällig hohe Schwermetallgehalte im Eluat.
Auf Hinweis der späteren Auftragnehmerin bzw. Klägerin (damals noch reine Teilnehmerin an der Vergabe), dass das Gutachten und das Leistungsverzeichnis nicht zueinander passten, änderte der Auftraggeber das Leistungsverzeichnis ab. Und zwar ordnete er die zu lösenden und zu verwertenden Böden im regelnden Teil des Leistungsverzeichnisses, das er noch rasch vor Submission abänderte, in LAGA Z.1.1. ein. Auch hieß es nun: „Besonders überwachungsbedürftigen Boden“. Ferner seien die Böden zu „entsorgen“.
Nach Auftragserhalt wandte sich die Klägerin direkt an ein Gutachterbüro und ließ ihrerseits die Böden untersuchen. Das neue Gutachten kam zu dem Ergebnis, dass zwei Bodenmischproben einer Einbauklasse >Z 2 und eine Bodenmischprobe der Einbauklasse Z.1.2 der Empfehlungen der LAGA zuzuordnen seien.
Damit begann der Streit. Die spätere Klägerin meldete Mehrkosten an, was der Auftraggeber zurückwies. Woraufhin die Klägerin Behinderung anzeigte, was der später beklagte Auftraggeber ebenfalls zurückwies.
Ein paar Monate später verweigerte der Grubenbetreiber die Entgegennahme der angelieferten ausgekofferten Böden. Die Böden unterfielen der Einbauklasse LAGA Z.1.2.; dies habe ein – weiteres, diesmal wohl vom Grubenbetreiber eingeholtes – Gutachten ergeben.
Daraufhin meldete die Klägerin erneut Bedenken, Behinderung und Mehrkosten gegenüber dem beklagten Auftraggeber an. Man einigte sich dann wohl auf die Einholung eines gemeinsamen Gutachtens. Dieses kam zu dem Ergebnis, dass die Verwertung in der Sandgrube des Grubenbetreibers erfolgen könne. Eigentlich schön für den beklagten Auftraggeber. Aber natürlich stieß dies auf wenig Gegenliebe der Klägerin, die – mit neuem Gutachten – den Einbau in die Grube weiterhin ablehnte.
Tatsächlich kam es zum Einbau in die Grube im Umfang von 89%. Der Einbau soll teilweise vor Ort anders behandelt worden sein, was Mehrkosten verursacht haben soll. Ein beträchtlicher Teil wurde andernorts eingebaut; dies vergütete der Auftraggeber gesondert.
Rechtliche Würdigung
Das Gericht hat die Ansprüche auf Mehrkostenerstattung bzw. Schadensersatz zurückgewiesen. Zwar habe die Klägerin insoweit Recht, als die Einordnung in Einbauklasse LAGA Z.1.1 falsch gewesen sei. Allerdings sei die betreffende Position im Leistungsverzeichnis erkennbar fehlerhaft gewesen. Die Klägerin habe hier gegen ihre Prüf- und Hinweispflicht verstoßen. Sie könne kein schutzwürdiges Vertrauen für sich in Anspruch nehmen.
Die erkennbare Fehlerhaftigkeit des Leistungsverzeichnisses leitet das Gericht aus mehreren Umständen ab. Zunächst hebt es die allgemeinen Grundsätze hervor. Bei der Auslegung der Baubeschreibung seien der Wortlaut, die besonderen Umstände des Einzelfalles, die Verkehrssitte und die Grundsätze von Treu und Glauben heranzuziehen. Die Auslegung habe gemäß §§ 133, 157 BGB stets nach dem objektiven Empfängerhorizont der potentiellen Bieter zu erfolgen. Zwar werde im Leistungsverzeichnis ausdrücklich eine – nach Ansicht des gerichtlichen Sachverständigen: falsche – Einstufung gemäß LAGA Z.1.1. vorgenommen. Darauf allein komme es jedoch nicht an: Der übrige Positionstext und die sonstigen Ausschreibungsunterlagen müssten genauso berücksichtigt werden wie die Historie, wie es also zu dieser Einstufung im regelnden Teil des Leistungsverzeichnisses gekommen sei. So enthalte der geänderte Positionstext Hinweise (z.B. „besonders überwachungsbedürftig“), die zwar rechtlich nicht zweifelsfrei einzuordnen, jedoch als Warnung zu interpretieren seien. Ferner deute das Wort „entsorgen“ in der geänderten Fassung des Leistungsverzeichnisses nach dem allgemeinen Sprachverständnis darauf hin, dass es um verwertbare Böden im Sinne von LAGA Z.1.2. gehe – und gerade nicht um Fälle von LAGA Z.1.1. Außerdem, so das OLG weiter, beruhte die kurz vor Submission erfolgte Änderung des Leistungsverzeichnisses doch gerade auf einer Nachfrage der Klägerin. Diese habe die Änderungen im Wortlaut letztlich selbst herbeigeführt und müsse sie dementsprechend auch erkannt haben. Ferner lasse sich die Einstufung gemäß LAGA Z.1.1. nicht in Einklang bringen mit dem Gutachten, das dem Leistungsverzeichnis beigefügt gewesen sei und das selbst begründe, warum eine solche Zuordnung nicht möglich sei.
Im Ergebnis, so das OLG Celle, bleibt unklar, wie die betreffende Position zu verstehen sei. Sicher sei nur, dass „LAGA Z.1.1.“ nicht stimmen könne. Der Auftraggeber, könnte man formulieren, hat gegen § 7 Abs. 1 Nr. 1 VOB/A verstoßen und eine nicht eindeutig und erschöpfend beschriebene Leistung vergeben. Der naheliegende Schluss ist, dass dies zu seinen Lasten, also zu Lasten des Auftraggebers, geht. Weit gefehlt! Das OLG weist der Klägerin eine letztlich entscheidende Mitverantwortung zu:
„Allerdings durfte die Klägerin nicht ohne Klärung mit einem Boden gemäß LAGA Z 1.1 kalkulieren, da sich bereits aus dem – von der Klägerin auch zur Kenntnis genommenen – Gutachten der I. Ingenieurgesellschaft mbH vom 09.04.2009 und den genannten Hinweisen in der Baubeschreibung und im Leistungsverzeichnis anderes ergibt, wie ausgeführt.“
Kurzerhand folgert das OLG Celle, dass Mehrvergütungsansprüche ausscheiden sollen. Denn die vorgefundenen und die ausgeschriebenen geologischen Verhältnisse wichen gar nicht voneinander ab. Auch habe die Klägerin sich nicht darauf verlassen dürfen, dass die Böden LAGA Z.1.1. entsprächen. Letztlich aus demselben Grund scheiterten Ansprüche wegen „Verschulden bei Vertragsschluss wegen fehlerhafter Ausschreibung“, wie es das OLG Celle bezeichnet. Die Klägerin habe eine „Prüf- und Hinweispflicht“ und könne „kein schutzwürdiges enttäuschtes Vertrauen für sich in Anspruch nehmen“.
Das OLG begründet nun rechtlich, warum dies aus seiner Sicht so zu sein hat. Zwar bestehe grundsätzlich keine Pflicht des Bieters im Ausschreibungs- und Angebotsstadium, auf im Leistungsverzeichnis enthaltene Fehler hinzuweisen. Jedoch folge aus dem Grundsatz des Gebots zu korrektem Verhalten bei Vertragsverhandlungen dann eine Prüfungs- und Hinweispflicht des Auftragnehmers, wenn die Verdingungsunterlagen offensichtlich falsch seien. So dürfe der Auftragnehmer ein erkennbar lücken- oder fehlerhaftes Leistungsverzeichnis nicht einfach hinnehmen. Er müsse sich daraus ergebende Zweifelsfragen vor Abgabe seines Angebots klären und sich insbesondere ausreichende Erkenntnisse über die vorgesehene Bauweise (Art und Umfang) verschaffen. Unterlasse der Auftragnehmer in einem solchen Fall den gebotenen Hinweis, sei er nach dem Grundsatz von Treu und Glauben gehindert, Zusatzforderungen zu stellen.
Die Klägerin sei sich ihrer Prüf- und Hinweispflicht auch bewusst gewesen, da sie ja nachgefragt habe. Gerade weil die Klägerin nachgefragt habe, sei sie zu einer besonders gründlichen Prüfung verpflichtet gewesen. Dass die Klägerin Zweifel an der Einstufung gehabt habe, zeige ferner auch, dass sie direkt nach der Zuschlagserteilung ein Bodengutachten in Auftrag gegeben habe. Zugleich könne der Beklagten kein treuwidriges Verhalten nachgesagt werden. Sie habe abhelfen wollen, eine bewusst fehlerhafte Ausschreibung könne ihr somit nicht vorgehalten werden.
Fazit
Fragt man sich, was dem Bieter zum Verhängnis wurde, so ist es noch ein wenig zu früh. Ob und wie sich der BGH positionieren wird, ist noch nicht raus. Ein paar interessante Feststellungen lassen sich jedoch treffen:
Das OLG Celle erkennt eine Hinweis- und Prüfungspflicht des Bieters und späteren Auftragnehmers, und zwar bereits im Vergabeverfahren vor Angebotsabgabe. Verstößt er hiergegen, will ihm das OLG „Zusatzforderungen“ abschneiden. D.h., Nachträge.
Eine Pflicht, Hinweise zu erteilen, erkennt das OLG Celle bei erkennbaren Fehlern. Erkennbarkeit bejaht das OLG Celle bei offensichtlicher Fehlerhaftigkeit oder offensichtlicher Lücken im Leistungsverzeichnis.
Ob das OLG für die Offensichtlichkeit bzw. Erkennbarkeit einen subjektiven oder einen objektiven Maßstab anlegt, ist nicht ganz klar. Einerseits argumentiert es sehr einzelfallbezogen. Der Bieter habe doch schon im Vergabeverfahren nachgefragt, auch habe er unmittelbar nach Zuschlag ein Gutachten beauftragt. Dies belege seine „Zweifel“. Andererseits klingen auch normative Erwägungen an.
Vor diesem Hintergrund ist die Entscheidung des OLG Celle aus Bietersicht ambivalent. Sie kann als Appell zu maximaler Zurückhaltung gedeutet werden; wobei diese Sichtweise mit erheblichen Risiken verbunden ist, wenn die Rechtsprechung auf einen gemischten, objektiv-subjektiven Maßstab verfällt und/oder bereits das frühzeitige Legen von Nachtragsangeboten, an dem auch der im Vergabeverfahren schweigende Bieter kaum vorbeikommen wird, als ausreichendes Indiz angesehen wird. Die Entscheidung könnte daher auch als Anreiz zu betrachten sein, sich im Vergabeverfahren zu Wort zu melden.
Eines ist die Entscheidung sicherlich nicht: ein Ausreißer oder ein Einzelfall. Es handelt sich um die dritte Entscheidung des OLG Celle, mit welcher dem dem Bieter und späteren Auftragnehmer mehr Verantwortung im Vergabeverfahren zugewiesen werden soll (vgl. OLG Celle, Urteil vom 02.10.2019, 14 U 171 / 18; OLG Celle, Urteil vom 31. Januar 2017, 14 U 200/15). Hier deutet sich möglicherweise ein Paradigmenwechsel an.
*Dieser Rechtstipp ersetzt keinen anwaltlichen Rat im Einzelfall. Er ist naturgemäß unvollständig, auch ist er nicht auf Ihren Fall bezogen und stellt zudem eine Momentaufnahme dar, da sich gesetzliche Grundlagen und Rechtsprechung im Lauf der Zeit ändern. Er kann und will nicht alle denkbaren Konstellationen abdecken, dient Unterhaltungs- und Erstorientierungszwecken und soll Sie zur frühzeitigen Abklärung von Rechtsfragen motivieren, nicht aber davon abhalten.