Der Beschluss des Bayerischen Obersten Landesgerichts (BayObLG) vom 5. August 2025 (Az.: Verg 2/25) befasst sich mit den Anforderungen an Eignungskriterien und der Aufklärungspflicht bei mehrdeutigen Angeboten im Verhandlungsverfahren. Die Entscheidung stellt klar, dass einmal bejahte Eignung einen Vertrauenstatbestand schafft, aber Unklarheiten im Angebot durch den Auftraggeber zwingend aufzuklären sind. Das BayObLG ordnete die Zurückversetzung des Verfahrens an, da das Vertrauen des Auftraggebers die fehlende Transparenz in den Vergabeunterlagen nicht ersetzen konnte.
Unser Video zur Urteilsbesprechung:
Sachverhalt: Mehrdeutigkeit bei der Bikesharing-Generationsfrage
Gegenstand des Verfahrens war die europaweite Vergabe eines Dienstleistungsauftrags zur Errichtung und zum Betrieb eines stationsbasierten Bikesharing-Systems für eine Region. Ein Konsortium aus kommunalen Auftraggebern (ÖPNV-Gesellschaft, Stadt, Landkreis, 36 Gemeinden) schrieb die Leistung im Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb aus. Die Ausschreibung forderte die Bereitstellung, Wartung und Reparatur von mechanischen Fahrrädern und Pedelecs. Ein Teil der Räder sollte zur Sicherung von Fördermitteln in das Eigentum der Auftraggeber übergehen („Eigentumsmieträder“). Es war vertraglich geregelt, dass alle Räder gleicher Bauart und Ausstattung sein mussten.
Nach positiver Eignungsprüfung reichten zwei Bieter, darunter die Antragstellerin und die Beigeladene, finale Angebote ein. Das Angebot der Beigeladenen lag wertungsmäßig vorn. Es stellte sich jedoch heraus, dass die Beigeladene dem finalen Angebot Fotos von zwei technisch signifikant unterschiedlichen Fahrradgenerationen (dritte und vierte Generation) beigefügt hatte. Dies stand im Widerspruch zur Gleichartigkeitsklausel des Betreibervertrags.
Die Antragstellerin rügte den beabsichtigten Zuschlag, da das Angebot der Beigeladenen wegen Unklarheit/Mehrdeutigkeit und Abweichung von zwingenden Must-Kriterien auszuschließen sei. Zudem habe die Beigeladene ihre Eignung nicht hinreichend nachgewiesen. Die Vergabekammer ordnete eine Rückversetzung vor die finale Angebotswertung zur Aufklärung des Angebotsinhalts an. Dagegen legten beide Parteien Beschwerde ein.
Kernpunkt der Entscheidung: Eindeutigkeit des Angebots und Vertrauensschutz
Das BayObLG entschied, dass das Verfahren vor Abgabe der finalen Angebote zurückzuversetzen ist, da die Leistungsanforderungen selbst nicht hinreichend transparent waren.
1. Eignung und Referenzen: Vertrauen und Verhältnismäßigkeit
Der Antragstellerin konnte mit ihren Einwänden gegen die Eignung der Beigeladenen nicht gefolgt werden.
- Vertrauenstatbestand: Im Verhandlungsverfahren begründet die positive Eignungsprüfung einen Vertrauenstatbestand zugunsten der zugelassenen Bieter. Die Eignung kann später nicht ohne Weiteres in Frage gestellt werden.
- „Vergleichbar“ ungleich „Identisch“: Die Forderung nach „geeigneten Referenzen“ bedeutet nicht, dass die Referenzleistung mit dem ausgeschriebenen Auftrag identisch oder gleich sein muss. Eine Referenz ist vergleichbar, wenn sie einen tragfähigen Rückschluss auf die Leistungsfähigkeit zulässt.
- Technologie-Unterschiede: Dass die Beigeladene Referenzen mit Fahrrädern der dritten Generation vorlegte, obwohl sie für den Auftrag die vierte Generation plante, war unschädlich. Der AG kann keine Referenzen fordern, die auf Produkten basieren, die erst entwickelt oder weiterentwickelt werden.
2. Transparenzmangel führt zur Rückversetzung
Entgegen der Auffassung der Vergabekammer war das finale Angebot der Beigeladenen so zu verstehen, dass beide Fahrradgenerationen angeboten wurden. Dies führte jedoch nicht zum Ausschluss des Angebots der Beigeladenen, sondern deckte einen Mangel in den Vergabeunterlagen auf.
- Vertragswiderspruch: Die vertragliche Vorgabe, nur Räder gleicher Bauart und Ausstattung zu verwenden, war im Hinblick auf den notwendigen Einsatz von Übergangsrädern (dritte Generation) und die spätere Umstellung (vierte Generation) objektiv unklar und widersprüchlich.
- Aufklärung ersetzt Transparenz nicht: Der AG hatte es versäumt, die objektiven Unklarheiten hinsichtlich der Einsatzmöglichkeiten (Tausch, Nachfolgemodelle, Mängelbehebung) zu beseitigen. Die bloße Hoffnung auf die korrekte Ausführung durch den Bieter reicht nicht.
- Konsequenz: Wegen der Transparenzmängel musste das Verfahren zurückversetzt werden, um den Bietern die Möglichkeit zu geben, neue Angebote auf der Grundlage eindeutiger Anforderungen abzugeben.
Tipps für öffentliche Auftraggeber: Transparenz und Aufklärungspflicht
Die Eignungsprüfung schafft Vertrauen, aber die Gestaltung der Leistungsanforderungen muss dieses Vertrauen durch Transparenz untermauern.
- Eignungskriterien verhältnismäßig gestalten: Fordern Sie nur Eignungskriterien, die im angemessenen Verhältnis zum Auftragsgegenstand stehen und nicht zu einer ungerechtfertigten Wettbewerbsbeschränkung führen.
- Referenzen funktional sehen: Die geforderte Referenz muss einen tragfähigen Rückschluss auf die Leistungsfähigkeit des Bieters ermöglichen. Verlangen Sie keine identischen Referenzen und berücksichtigen Sie die Weiterentwicklung der Produkte.
- Klarheit vor Vertrauen: Vertrauen Sie nicht darauf, dass der Bieter vertragliche Widersprüche im Zweifel zu Ihren Gunsten auflöst. Wenn das Angebot mehrdeutig ist (z. B. durch unterschiedliche Bilder) oder die Leistungsbeschreibung unklar ist, muss der Angebotsinhalt zwingend aufgeklärt werden, andernfalls droht die Zurückversetzung.
- Weiterentwicklung ermöglichen: Formulieren Sie Klauseln zur Gleichheit von Bauart/Ausstattung so, dass Nachfolgemodelle oder Verbesserungen nicht pauschal ausgeschlossen werden, solange die Systemintegration gewährleistet ist.
Tipps für Bieter und Bewerber: Rechte nutzen und Indizien sammeln
Das Urteil stärkt Bieter, da es die hohen Anforderungen an die Transparenz der Vergabeunterlagen bekräftigt und die Nutzung des Rechtsschutzes fördert.
- Rügen substantiieren: Bloße Vermutungen oder „Rügen ins Blaue hinein“ genügen nicht. Sie müssen tatsächliche Anknüpfungstatsachen oder Indizien vortragen, um einen hinreichenden Verdacht auf einen Vergaberechtsverstoß zu begründen.
- Akteneinsicht nutzen: Neues Vorbringen und Einwände, die Sie auf die gewährte Akteneinsicht stützen, sind im Nachprüfungsverfahren nicht präkludiert.
- Angebotsinhalt sichern: Achten Sie darauf, dass Ihr eigenes Angebot eindeutig ist, insbesondere, wenn Sie verschiedene Technologien (z. B. unterschiedliche Radgenerationen) anbieten. Eine Unklarheit kann zwar den AG zur Aufklärung zwingen, ist aber stets ein Risiko.
- Referenzen konsequent auslegen: Lassen Sie sich nicht durch Forderungen nach „identischen“ Leistungen verunsichern. Die Eignungsprüfung ist funktional; wenn Ihre Referenz die Komplexität des ausgeschriebenen Auftrags belegt, ist sie geeignet.