Ein wesentliches Ziel des Vergaberechts ist es, die Chancengleichheit der Bieter und die rechtskonforme Vergabe öffentlicher Aufträge sicherzustellen. Kommt es zu Rechtsverletzungen, stehen Bietern grundsätzlich mehrere Wege zur Verfügung, ihre Rechte zu wahren: das Nachprüfungsverfahren vor den Vergabekammern und/oder die Geltendmachung von Schadensersatz vor den Zivilgerichten. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat 2019 entschieden, dass ein Schadensersatzanspruch auch ohne vorheriges Nachprüfungsverfahren bestehen kann. Diese Entscheidung hat eine lange Diskussion in Rechtsprechung und Literatur abgerundet.
Die Rechtsprechung des BGH aus dem Jahr 2019
In seiner Grundsatzentscheidung vom 19. Februar 2019 (Az. X ZR 22/18) hat der BGH klargestellt, dass ein Schadensersatzanspruch nach § 280 BGB in Verbindung mit § 97 Abs. 7 GWB nicht zwingend voraussetzt, dass der betroffene Bieter zuvor ein Nachprüfungsverfahren eingeleitet hat. Die wichtigsten Punkte des Urteils:
- Unabhängigkeit von Nachprüfungsverfahren:
Der BGH führte aus, dass Schadensersatzansprüche aus Vergaberechtsverletzungen eigenständige Rechtsfolgen sind, die nicht an das Nachprüfungsverfahren gekoppelt sind. Die Möglichkeit eines Nachprüfungsverfahrens schließt Schadensersatzansprüche nicht aus. - Keine Obliegenheit zur Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens:
Zwar können Bieter gehalten sein, ihre Rechte frühzeitig geltend zu machen, jedoch stellt die Nichtanrufung der Vergabekammer keinen generellen Verstoß gegen die Schadensminderungspflicht (§ 254 BGB) dar. Der BGH betonte, dass dies nur im Einzelfall geprüft werden kann. - Kausalität und Beweislast:
Der BGH hob hervor, dass der Bieter, der Schadensersatz geltend macht, die Kausalität zwischen der Vergaberechtsverletzung und seinem Schaden darlegen und beweisen muss. Ohne Nachprüfungsverfahren ist dieser Nachweis erschwert, aber nicht ausgeschlossen.
Vorangegangene obergerichtliche Rechtsprechung
Schon vor dem BGH-Urteil hatten mehrere Oberlandesgerichte entschieden, dass ein Nachprüfungsverfahren keine zwingende Voraussetzung für die Geltendmachung von Schadensersatz ist. Diese Rechtsprechung bildete die Grundlage für die Klarstellung des BGH:
- Oberlandesgericht Düsseldorf (Az. Verg 38/10):
Das OLG Düsseldorf entschied, dass ein Schadensersatzanspruch auch ohne Nachprüfungsverfahren bestehen kann, wenn der Bieter glaubhaft macht, dass er den Auftrag ohne die Rechtsverletzung erhalten hätte. Das Nachprüfungsverfahren wurde als Möglichkeit, nicht aber als Pflicht angesehen. - Oberlandesgericht München (Az. Verg 9/11):
Das OLG München argumentierte, dass das Nachprüfungsverfahren eine vorteilhafte, aber nicht zwingende Option ist, um Vergaberechtsverstöße aufzuklären. Es stellte jedoch klar, dass die Beweisführung ohne Nachprüfungsverfahren schwieriger ist. - Oberlandesgericht Koblenz (Az. 1 U 324/12):
Das OLG Koblenz urteilte, dass die Schadensminderungspflicht aus § 254 BGB nicht verletzt wird, wenn ein Bieter auf ein Nachprüfungsverfahren verzichtet, sofern das Verfahren keinen Erfolg versprochen hätte oder für den Bieter unzumutbar gewesen wäre. - Oberlandesgericht Celle (Az. 13 U 176/13):
Hier wurde betont, dass Schadensersatzansprüche unabhängig von einem Nachprüfungsverfahren bestehen können, sofern die Vergaberechtsverletzung eindeutig nachgewiesen wird.
Die Folgen der Rechtsprechung
Die BGH-Entscheidung aus 2019 und die vorgelagerte obergerichtliche Rechtsprechung haben weitreichende Auswirkungen:
- Stärkung der Rechte der Bieter:
Bieter können nun in bestimmten Fällen direkt auf Schadensersatz klagen, ohne das Nachprüfungsverfahren zu durchlaufen. Dies bietet mehr Flexibilität bei der Wahl der Rechtsmittel. - Erhöhte Anforderungen an Beweisführung:
Zwar ist ein Nachprüfungsverfahren nicht zwingend erforderlich, doch bleibt die Beweislast für den Schadensersatzanspruch beim Bieter. Ohne die Feststellungen aus einem Nachprüfungsverfahren ist es schwieriger, die Kausalität und die Erfolgsaussichten darzulegen. - Einzelfallprüfung bei Schadensminderung:
Die Gerichte müssen im Einzelfall prüfen, ob der Verzicht auf ein Nachprüfungsverfahren die Schadensminderungspflicht verletzt. Es gibt keine generelle Vermutung zu Lasten des Bieters.
Warum der Bieter dennoch das Nachprüfungsverfahren vorziehen sollte
Obwohl der Schadensersatz auch ohne Nachprüfungsverfahren geltend gemacht werden kann, bleibt das Nachprüfungsverfahren in vielen Fällen die bessere Option:
- Feststellungen zur Rechtswidrigkeit:
Das Nachprüfungsverfahren klärt frühzeitig, ob das Vergabeverfahren rechtswidrig war und ob der Bieter den Zuschlag erhalten hätte. - Schnelle Fehlerkorrektur:
Ein Nachprüfungsverfahren kann eine Wiederholung des Vergabeverfahrens erzwingen, was oft effektiver ist als langwierige Schadensersatzprozesse. - Minimierung der Beweislast:
Im Nachprüfungsverfahren trägt der Auftraggeber eine größere Darlegungslast. Im Schadensersatzprozess liegt diese überwiegend beim Bieter.
Warum öffentliche Auftraggeber das Nachprüfungsverfahren bevorzugen sollten
Auch für Auftraggeber ist ein Nachprüfungsverfahren vorteilhaft:
- Vermeidung von Schadensersatzforderungen:
Ein erfolgreiches Nachprüfungsverfahren kann teure Schadensersatzforderungen verhindern. - Rechtssicherheit:
Durch die frühzeitige Klärung wird Transparenz geschaffen und die Durchführung des Vergabeverfahrens verbessert. - Wahrung des öffentlichen Interesses:
Nachprüfungsverfahren tragen dazu bei, Vergabeverstöße zu korrigieren, ohne die öffentlichen Haushalte durch Schadensersatzforderungen zu belasten.
Fazit
Das BGH-Urteil von 2019 hat die Rechte der Bieter gestärkt, indem es klargestellt hat, dass Schadensersatzansprüche auch ohne Nachprüfungsverfahren geltend gemacht werden können. Die Entscheidung greift die bereits etablierte obergerichtliche Rechtsprechung auf und schafft damit Klarheit. Dennoch bleibt das Nachprüfungsverfahren in den meisten Fällen der bevorzugte Weg, da es frühzeitig Rechtssicherheit schafft und sowohl für Bieter als auch für Auftraggeber Vorteile bietet. Letztlich erfordert jede Situation eine sorgfältige Abwägung der rechtlichen und praktischen Gegebenheiten.