Sachverhalt*
Der EuGH hatte Ende des letzten Jahres über zwei verbundene Rechtssachen aus Bulgarien zu entscheiden (Urteil vom 7. Dezember 2023, Rs. C‑441/22 und C‑443/22).
Dem ersten Vorabentscheidungsersuchen lag eine Vergabe der bulgarischen Gemeinde Razgrad aus dem Jahr 2018 zugrunde. Gegenstand war ein Bauauftrag. Für die Erbringung dieses Bauauftrags war ein Fertigstellungszeitpunkt vertraglich vereinbart worden. Etwa ein Jahr nach der Auftragsvergabe vereinbarten die Parteien jedoch eine Verlängerung des Zeitraums, innerhalb dessen der Bauauftrag erbracht werden sollte. Die Verschiebung des Fertigstellungszeitpunkts wurde mit unvorhersehbaren Entwicklungen begründet.
Später kam es dann zu einer Kürzung der Fördermittel, die der Gemeinde gegeben worden waren. Als Begründung machte die kürzende Stelle geltend, die Laufzeit des Vertrags sei wesentlich gewesen. Denn sie sei als Höchstlaufzeit vereinbart und noch dazu im Rahmen der Zuschlagsentscheidung bewertet worden. Auch sei eine Vertragsstrafe, die wegen der Laufzeitüberschreitung hätte gezogen werden müssen, widerrechtlich nicht geltend gemacht worden. Im Ergebnis sei hierin eine rechtswidrige Änderung der Vertragsbedingungen zu sehen.
Dem zweiten Vorabentscheidungsersuchen lag eine Vergabe der bulgarischen Gemeinde Balchik aus dem Jahr 2019 zugrunde. Die Bauarbeiten betrafen die Gestaltung der Küstenpromenade und mussten aufgrund nationaler gesetzlicher Anordnung den Sommer über ausgesetzt werden, sodass sich die tatsächliche Dauer der Vertragsausführung verglichen mit der in der Vergabe vorgegebenen Dauer verfünffachte. Auch diese Fristüberschreitung blieb folgenlos für den Auftragnehmer, sodass der Fördermittelgeber – wie in der Sache Razgrad – auf eine rechtswidrige wesentliche Vertragsänderung erkannte und 25% der Fördermittel kürzte.
Rechtliche Würdigung
Der EuGH hatte nun mehrere Vorlagefragen zu beantworten, die er im Wesentlichen auf zwei Fragen zusammendampfte.
Zunächst gab er Auskunft darüber, ob eine vergabepflichtige wesentliche Änderung eines bereits geschlossenen Vertrags nur dann vorliege, wenn diese Änderung schriftlich vereinbart worden sei. Denn die Gemeinden hatten die deutlichen Ausführungsfristüberschreitungen zwar hingenommen, auch war diese Entscheidung wohl anhand des Schriftverkehrs nachvollziehbar. Vor allem wurde ihr stillschweigendes Einverständnis daran deutlich, dass die Überschreitungen sanktionslos blieben. Eine ausdrückliche schriftliche Laufzeitverlängerung hatten die Gemeinden jedoch nicht vereinbart. Man konnte sich also schon fragen, ob denn überhaupt eine wesentliche Vertragsänderung vorliege, die hätte ausgeschrieben werden müssen. Denn eine solche Vertragsänderung hätte einvernehmlich zwischen den Parteien erfolgen und üblicherweise auch schriftlich dokumentiert werden müssen.
Wenig überraschend, möchte der EuGH eine Umgehung des Vergaberechts vermeiden, indem die Parteien das von den ursprünglichen Vereinbarungen abweichende Verhalten der anderen Partei stillschweigend hinnehmen. Er hält daher fest:
„Die Absicht, die Bedingungen des Auftrags neu zu verhandeln, kann aber in anderer Form als durch eine schriftliche Vereinbarung über die betreffende Änderung zum Ausdruck gelangen, wobei sich eine solche Absicht u. a. aus schriftlichen Äußerungen ableiten lässt, die während Gesprächen der Parteien des Vertrags über einen öffentlichen Auftrag festgehalten werden.“
Tz. 64
Weiterhin wollte die vorlegenden Stellen Anhaltspunkte für die Abgrenzung zwischen einer rechtswidrigen wesentlichen Vertragsänderung auf der einen Seite und einer lediglich nicht ordnungsgemäßen Auftragsausführung auf der anderen Seite erfahren. Da sich die Gemeinden auf angeblich nicht vorhersehbare Entwicklungen berufen hatten – Witterungsbedingungen, gesetzliche Bauverbote zu bestimmten Jahreszeiten –, musste sich das Gericht auch damit auseinandersetzen. Erneut war die Einschätzung des EuGH wenig überraschend, dass
„gewöhnliche Wetterbedingungen sowie vorab bekannt gegebene und im Zeitraum der Ausführung des Auftrags geltende gesetzliche Verbote der Durchführung von Bauarbeiten nicht als Umstände angesehen werden können, die ein seiner Sorgfaltspflicht nachkommender öffentlicher Auftraggeber im Sinne dieser Bestimmungen nicht vorhersehen konnte.“
Tz. 69
Zugleich weist der EuGH auf einen Ausweg hin. So könne der Auftraggeber in der Vergabe Optionsklauseln aufnehmen, mit denen er auch solche Umstände regle, die er im Rahmen seiner Sorgfaltspflicht vorhersehen könne. Also auch Witterungsbedingungen etc.
Fazit
Das Urteil des EuGH ist aus mehreren Gründen beachtlich.
Für Vergabestellen, Bedarfsträger, Bauämter, sonstige Bauherrn und Auftraggeber im Allgemeinen ergeben sich herausfordernde Gestaltungsaufgaben. Bekanntlich kommt es sehr oft zu Fristüberschreitungen nicht nur, aber auch in Bauvorhaben. Wobei solche Fristüberschreitungen der Auftraggeber noch nicht mal zu vertreten haben muss, damit ihre widerspruchslose Hinnahme letztlich förderschädlich sein kann. Der EuGH fragt lediglich: Hätte der Auftraggeber die Umstände, die zur Fristüberschreitung geführt haben, voraussehen müssen? Das ist etwas anderes als die Frage, ob der Auftraggeber diese Umstände zu vertreten hat. Konnte der Auftraggeber die Verzögerung also im Zeitpunkt der Auftragsvergabe voraussehen, so kann er später hierauf keine vergabefreie Vertragsänderung wegen mangelnder Vorhersehbarkeit stützen. Dies gilt zumindest dann, wenn die Ausführungsfrist eine gewisse Bedeutung für die Ausgangsvergabe gehabt hat, was regelmäßig der Fall ist.
Kein Ausweg ist es nun, die Fristüberschreitung einfach hinzunehmen. Ein solches Stillschweigen – zusammen genommen mit Baustellenprotokollen etc. – kann unter Umständen ausreichen, um eine Einvernehmlichkeit zwischen dem Auftraggeber und dem Auftragnehmer zu belegen, also eine wesentliche Vertragsänderung im Unterschied zu einer bloßen Vertragsverletzung, die keine vergaberechtlichen Folgen hat.
Liegt eine solche wesentliche Vertragsänderung vor, die nicht ausgeschrieben wurde, so dürfen Fördermittel gekürzt werden. Und zwar kräftig. 25% der geförderten Kosten, das ist oftmals sehr viel Geld.
Der EuGH zeigt zugleich einen möglichen Ausweg auf. Für vorhesehbare Entwicklungen dürfe sich der Auftraggeber Optionen vorbehalten. Nach dem Wortlaut der deutschen Umsetzungsbestimmung in § 132 Abs. 2 Nr. 1 GWB ist der Ausweg eröffnet, wenn
„in den ursprünglichen Vergabeunterlagen klare, genaue und eindeutig formulierte Überprüfungsklauseln oder Optionen vorgesehen sind, die Angaben zu Art, Umfang und Voraussetzungen möglicher Auftragsänderungen enthalten, und sich aufgrund der Änderung der Gesamtcharakter des Auftrags nicht verändert“.
Ob die Bestimmungen der VOB/B – und wenn ja, welche – diesen Anforderungen genügen, ist eine letztlich offene Frage.
Für Auftragnehmer, Bieter und Bewerber ist die Entscheidung des EuGH ebenfalls von höchster Bedeutung. Zum einen gefährden säumige Auftragnehmer „ihren“ Vertrag, falls sie von den ausgeschriebenen Bedingungen abweichen, also z.B. mehr Zeit benötigen als ursprünglich vorgesehen. So kann ein konkurrierender Bieter die Feststellung der Nichtigkeit einer solchen wesentlichen Vertragsänderung – in Gestalt einer u.U. massiven Ausführungsfristüberschreitung – bei der Vergabekammer beantragen. Zum anderen erhöht sich aufgrund dieser Rechtsprechung insbesondere in geförderten Vorhaben der faktische Druck auf den Auftraggeber, etwaige Vertragsstrafen- oder Schadensersatzansprüche auch tatsächlich zu verfolgen. Der Auftraggeber kann die Ansprüche nicht einfach „liegen lassen“.
Für konkurrierende Bieter und Bewerber bietet die Entscheidung schließlich auch interessante Möglichkeiten. Kurz gefasst, eröffnet sie folgende Handlungsoption: Wenn der öffentliche Auftraggeber mehr oder minder sehenden Auges eine neue, andere, ergänzte, reduzierte oder erweiterte Leistung hinnimmt als diejenige Leistung, die er früher einmal ausgeschrieben oder schriftlich vereinbart hat, so kann der Konkurrent vor die Vergabekammer ziehen und die Feststellung der Nichtigkeit des geänderten Vertrags beantragen. Dies kann er u.U. auch Jahre nach Beendigung der Ursprungsvergabe noch tun. Für einen solchen Antrag gibt es strenge Fristanforderungen, auch ist er mit Kosten verbunden. Allerdings ist er ein probates Mittel für Konkurrenten, eine Geschäftsbeziehung, die aus dem Ruder gelaufen ist, zu beenden.
*Dieser Rechtstipp ersetzt keinen anwaltlichen Rat im Einzelfall. Er ist naturgemäß unvollständig, auch ist er nicht auf Ihren Fall bezogen und stellt zudem eine Momentaufnahme dar, da sich gesetzliche Grundlagen und Rechtsprechung im Lauf der Zeit ändern. Er kann und will nicht alle denkbaren Konstellationen abdecken, dient Unterhaltungs- und Erstorientierungszwecken und soll Sie zur frühzeitigen Abklärung von Rechtsfragen motivieren, nicht aber davon abhalten.